Zu wenig, zu viel – Kritik an Kehrtwende in Corona-Politik

Mrz 4, 2021

Der Wende der Bundesregierung und der 16 Ministerpräsidenten in der Corona-Politik ist auf ein gemischtes Echo gestoßen.

Opposition und Wirtschaftverbände kritisierten am Donnerstag die Beschlüsse als nicht ausreichend. Dagegen warnten Intensivmediziner und Grünen-Chef Robert Habeck davor, dass die Lockerungen eine dritte Pandemie-Welle auslösen könnten. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder mahnte, dass man die Beschlüsse nun nicht „zerreden „solle. Schleswig-Holstein will nach Angaben von Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) bereits am Montag den Einzelhandel wieder öffnen.

Bund und Länder hatten bei ihren Beratungen am Mittwochabend eine Kehrtwende in der Corona-Politik vollzogen. So wird der Lockdown zwar bis zum 28. März verlängert, aber ab dem 8. März sollen trotz steigender Corona-Neuinfektionen deutliche Öffnungsschritte kommen. Anders als bisher vorgesehen sollen Lockerungen der Kontakteinschränkungen dann nicht mehr an eine Sieben-Tage-Inzidenz von 35 geknüpft werden. Stattdessen wurde ein Stufenplan beschlossen, der Öffnungen schon bei einer Inzidenz unter 50 und sogar unter 100 vorsieht.

In Schleswig-Holstein öffnet deshalb zu Beginn kommender Woche der Einzelhandel wieder. In Geschäften bis zu 800 Quadratmetern Fläche gilt dann eine Beschränkung von einem Kunden pro zehn Quadratmeter. Oberhalb dieser Größe gelten 20 Quadratmeter pro Kunde. Günther riet Geschäften, ein System der Kontaktnachverfolgung und Terminvergabe aufzubauen, das nötig ist, wenn die Inzidenz wieder über 50 steigt.

Das Robert-Koch-Institut meldete 11.912 neue Positiv-Tests. Das sind 43 Fälle mehr als am Donnerstag vor einer Woche. 359 weitere Menschen starben, die positiv getestet wurden. Die Sieben-Tage-Inzidenz stieg auf 64,7 von 64,0. Der Wert ist am niedrigsten in Schleswig-Holstein mit 47,7, am höchsten in Thüringen mit 127,5.

ZU WENIG FÜR WIRTSCHAFT, ZU VIEL FÜR MEDIZINER

Wirtschaftsverbände reagierten überwiegend kritisch. „Der Beschluss von Bund und Ländern ist aus Sicht der Wirtschaft unzureichend“, sagte etwa BDI-Präsident Siegfried Russwurm . Vertreter der Reisebranche äußerten sich ebenfalls enttäuscht über fehlende Öffnungsperspektiven. FDP-Chef Christian Lindner warf der Bundesregierung Versagen im Kampf gegen die Corona-Pandemie vor. Zu deren Beginn seien allen Fehler und Fehleinschätzungen unterlaufen, sagte er im Deutschlandfunk.

Dagegen warnten die Intensivmediziner, dass die Schritte bereits zu weitgehend seien. „Die Sorge ist, dass wir deutlich steigende Zahlen an Neuinfektionen – und damit mit einem zeitlichen Versatz von zehn bis 14 Tagen – an Intensivpatienten mit Covid-19 haben werden“, sagte Gernot Marx, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Im Nachbarland Polen, wo die Infektionszahlen zuletzt wieder deutlich gestiegen waren, hält die Regierung Lockerungen erst im Mai für denkbar. Dann werde der Scheitelpunkt einer dritten Infektionswelle erreicht sein, sagte Gesundheitsminister Adam Niedzielski. Ungarn verschärfte seine Maßnahmen.

TESTEN UND IMPFEN SOLLEN ÖFFNUNGEN ABSICHERN

Kanzlerin Angela Merkel hatte nach den Beratungen betont, sie habe den veränderten Inzidenz-Werten nur zugestimmt, weil gleichzeitig eine „Notbremse“ beim Wert 100 eingezogen worden sei. Beträgt die Zahl der neuen Positiv-Tests pro 100.000 Personen mehr als 100 in einer Woche, müssen dem Beschluss zufolge Lockerungsschritte wieder zurückgenommen werden. Man komme nun in eine „neue Phase der Pandemie“. Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) bezeichnete den Beschluss als vernünftig. Es sei keine Öffnung, aber auch keine einfache Lockdown-Verlängerung, sagt der CDU-Vorsitzende im Düsseldorfer Landtag. Besonders Günther sowie seine rheinland-pfälzische Kollegin Malu Dreyer (SPD) hätten sich sogar für weitergehendere Lockerungen starkgemacht, hieß es aus Teilnehmerkreisen.

Merkel, Söder und Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) hatten die Lockerungen damit gerechtfertigt, dass man nun verstärkt Impfen und Testen könne. Der Beschluss sieht unter anderem vor, dass sich jeder ab dem 8. März einmal die Woche einem kostenlosen Corona-Schnelltests unterziehen kann. Schnelltests sollen auch verstärkt an Schulen und in Betrieben eingesetzt werden und dann mit Selbst-Schnelltests ergänzt werden. Am Freitag soll es Gespräche der Bundesregierung mit Herstellern geben, um eine ausreichende Anzahl von Schnelltests sicherzustellen.

In den Beschlüssen werden nicht mehr alle Bereiche erfasst, die Infektionsherde sein könnten. So wollen die Länder Schulen künftig ohne Absprache mit dem Bund weiter öffnen. Fast alle Schüler etwa in Bayern sollen nach dem Willen von Söder noch vor den Osterferien die Chance erhalten, in die Schulen zurückzukehren. In dem Bund-Länder-Beschluss sind Lockerungen der Kontaktbeschränkungen ab dem 8. März vorgesehen. In einem ersten Schritt sollen etwa Blumenläden, Buchhandlungen und Gartenmärkte bundesweit öffnen. Danach setzt bis zum 4. April ein Stufenplan ein, der beim Erreichen der Inzidenz von 50 beziehungsweise 100 Öffnungsschritte in verschiedenen Bereichen von Einzelhandel, Museen, Sport bis hin zur Außengastronomie vorsieht. Die Ministerpräsidenten wollen sich mit der Kanzlerin am 22. März erneut zusammensetzen, um dann über die Regeln an Ostern zu sprechen. Dann soll auch über Bereiche wie Hotels gesprochen werden, die keine Öffnungsperspektive erhielten.

von Andreas Rinke (Quelle:Reuters)

General view of the Reichstag building, the seat of lower house of German parliament, Bundestag, ahead of a session on the outbreak of the coronavirus disease (COVID-19) in Berlin, Germany, March 25, 2020. REUTERS/Axel Schmidt

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