Kay Bernstein hat sich unsterblich gemacht.
Nach dem plötzlichen Tod von Präsident Kay Bernstein stand Hertha BSC gegen Fortuna Düsseldorf vor einem Tag der Ungewissheit. Doch Verein, Mannschaft und Fans haben bewiesen, Bernsteins Prinzipien verstanden zu haben. Von Marc Schwitzky
Warum gehen wir zum Fußball? Warum ins Stadion? Wieso bleiben wir nicht einfach auf der Couch vor dem Fernseher – mit bester Sicht, Wiederholungen und im Warmen? Wieso quälen wir uns an Spieltagen in die elendig vollen, öffentlichen Verkehrsmittel? Wieso engagieren sich Menschen in Vereinen, ob ehrenamtlich oder als Mitglied?
Weil (Profi-)Fußball eben mehr ist als das Gebolze von 22 Millionären auf dem Rasen. Es geht um Emotionen, um Menschlichkeit. Fußball ist Katharsis, Theater, Eskapismus. Und Sport soziale Teilhabe, Gleichheit und die Möglichkeit, mitzugestalten. Kay Bernstein wusste das.
Doch der viel zu früh verstorbene Präsident von Hertha BSC wusste es nicht nur – er hat dieses Ideal gelebt. Innerhalb von nur eineinhalb Jahren an Herthas Spitze wurde er zum Symbol für genau diesen Fußball. Einen Fußball, der sich an seine Rolle als gesellschaftliches Lagerfeuer erinnert, der nicht mit blinder Gier davoneilt. Ein Fußball, der den Menschen gehört, der sie ernst nimmt und ihnen Kraft schenkt. Ein Fußball, aus dem Geschichten, Helden und Gemeinschaft entstehen.
„Wir haben bislang kein einziges Wort über das Spiel verloren“
Dass es im Fußball genau darum geht, beweist er meist in den schwersten Zeiten. Der Tod von Bernstein hat die Hertha-Familie und ganz Fußball-Deutschland geschockt. In nur wenigen Tagen mussten sich Fanszene und Verein überlegen, wie sie den kommenden Spieltag gegen Fortuna Düsseldorf bestreiten wollen.
Den Anfang machte ein Trauermarsch vom Theodor-Heuss-Platz zum Olympiastadion. Der „Theo“, der am 11. November 2023 im Rahmen des Freundschaftsduells mit dem Karlsruher SC noch ein Ort der grenzenlosen Freude war, wurde am Sonntagvormittag zum Ort der Trauer. Menschen weinen, umarmen sich, fangen sich gegenseitig auf. Viele tragen einzelne Rosen oder ganze Blumengestecke mit sich, die sie später vor dem Olympiastadion ablegen werden.
Das Gemurmel der 7.000 Teilnehmer kennt viele Facetten. Tiefe Trauer. Das ständige Feststellen, eigentlich keine Worte für das Geschehene zu haben. Eigene Anekdoten über Kay Bernstein. Erklären, was man mit ihm verbindet. Ehrliche, teils panische Ungewissheit darüber, was einen heute erwartet und wie es mit Hertha nun weitergeht. Auch Alltagsgespräche sind zu hören, einige scheinen dieses traurige Ereignis als Grund genommen zu haben, sich erstmals seit längerem wiederzusehen. Ein Marsch als mobile Begegnungs- und Andachtsstätte. Nach vielen Gesprächen bemerkt ein Hertha-Fan: „Schon krass, wir haben bislang kein einziges Wort über das Spiel verloren.“
Mit dabei sind auch zahlreiche Hertha-Verantwortliche wie der nun kommissarische Präsident Fabian Drescher oder Geschäftsführer Tom Herrich. Die Mitarbeiter der Geschäftsstelle mischen sich unter die anderen Fans. Frei nach Bernsteins Motto „Wir Herthaner“, das die Gemeinschaft stärken und Lager wie auch Hierarchien aufbrechen wollte.
Es ist, als würde die Trauer den Schall schlucken.
Eine ohrenbetäubende Stille
Im Stadion angekommen fühlt sich vieles ungewohnt, ja nahezu surreal an. In Gedenken an Bernstein werden viele übliche Rituale der Hertha-Heimspiele ausgesetzt. Kein lautes Einheizen der Stadionsprecher, nicht das üblich flippige Vorprogramm aus Musik, Interviews und vielem mehr. Keine bereits Lieder gröhlenden Hertha-Fans an den Ständen und auf den Rängen. Stattdessen beinahe gespenstische Ruhe, die üblichen Lieder werden von Songs wie „My Way“, „Junimond“ oder „Everybody Hurts“ ersetzt. Die Aufstellungen der Mannschaften werden nur nüchtern verlesen, die emotional gebeutelte Berliner Ostkurve bleibt ruhig. Eine ohrenbetäubende Stille.
Es ist, als würde die Trauer den Schall schlucken. Nur die Fans von Fortuna Düsseldorf sind zu hören: sie gedenken Bernstein mit einem Transparent, feuern ihre Mannschaft aber wie gewohnt an. Laut wird es bei Hertha zunächst nur, als die Hymne „Nur nach Hause“ gespielt wird. Das Stadion, es singt, womöglich so andächtig und inbrünstig wie noch nie zuvor.
Dann spricht Stadionsprecher Fabian von Wachsmann. Er widmet Bernstein emotionale Worte. „Du wirst in unserem Herzen weiterleben“, sagt er schließlich, dann bricht die zuvor schon wackelige Stimme endgültig. Doch er wird von einem applaudierenden Stadion aufgefangen. Ein Moment der tiefen Verbundenheit. Anschließend eine Schweigeminute, die ihrem Namen wirklich gerecht wird. 43.000 Menschen hüllen das unendlich weite Olympiastadion in absolute Stille. In der Ostkurve hängt ein Banner mit der Aufschrift „In Gedenken an Kay Bernstein“. Eine einzige Pyrofackel leuchtet für ihn auf. Dann ist Anpfiff.
Ein Moment der Erlösung
Die Spieler von Hertha BSC hätten allen Grund gehabt, um mit dem Kopf nicht voll bei der Sache zu sein. Bernstein war nicht irgendein Vereinspräsident, das äußerte sich auch in dem unüblich engen Verhältnis zwischen ihm und der Mannschaft. Doch die Hausherren wirkten gefestigt, ja nahezu motiviert. „Kay war ein Teil von uns und wir wollten dieses Spiel für ihn bestreiten, so habe ich auch die Mannschaft wahrgenommen“, sagte Sportdirektor Benjamin Weber nach dem Spiel.
Dass die sportliche Leistung der Berliner und das Endergebnis an diesem Sonntagnachmittag absolut zweitrangig ist, steht außer Frage. Doch umso mehr ehrt es Trainerteam und Mannschaft, gegen einen so hochklassigen Gegner wie Düsseldorf eine beachtliche Leistung gezeigt zu haben. Als Haris Tabakovic in der 30. Minute das 1:0 erzielt, wirkt es wie eine regelrechte Erlösung. Als dürften Fans und Mannschaft das erste Mal seit Tagen wieder atmen. Als der Schweizer für den Torjubel zur Bank läuft und das Aufwärmshirt mit der Aufschrift „Wir Herthaner. In tiefer Trauer“ in Richtung Himmel hält, ist die Hertha-Familie zu sehen und spüren, die Bernstein immer gepredigt hatte.
Ob der Trauermarsch oder die vielen Bilder, Kerzen und Blumen vor den Stadioneingängen und dem Olympiastadion selbst. Ob die Rede von Stadionsprecher Fabian von Wachsmann, die stille Andacht in der Schweigeminute oder die vielen, gedenkenden Spruchbänder in der Ostkurve. Ob der besonders geschmückte „Stammplatz“ von Bernstein im Stadion, auf dem seine berühmt gewordene Trainingsjacke und ein Megafon als Reminiszenz an seine Zeit als Vorsänger der Hertha-Ultras zu liegen kamen. Oder der emotionale Jubel von Tabakovic.
All diese Momente haben einen mehr als würdigen Rahmen für dieses so einzigartige Abschiedsspiel geschaffen, das sportlich betrachtet als 2:2 endet. Es gibt wohl keinen besseren Beweis dafür, dass die Saat Bernsteins aufgegangen ist. „Mein Wunsch für 2024: Lasst uns diese Gemeinschaft pflegen und stärken, um daraus Kraft zu gewinnen, die uns nicht nur träumen, sondern auch Ziele erreichen lässt“, hatte er noch am 31. Dezember 2023 auf „X“ geschrieben.
„Es geht weiter, wenn auch anders“
So tragisch und sinnlos sein Tod ist, so sehr beweisen die Reaktionen von Klub und Fans, welch Wundertat Bernstein in seinen eineinhalb Jahren als Präsident vollbracht hat. Er hat einen völlig zerstrittenen und kaputten Klub wieder vereint, längst verloren geglaubte Werte zum Vorschein gebracht und Hertha den Glauben an bessere Zeiten geschenkt. Er hat den Hertha-Fans auf die Frage „Warum gehen wir zum Fußball?“ wieder eine Antwort gegegeben.
Dieser ganz besondere Tag steht als Symbol dafür, dass der von Bernstein eingeschlagene „Berliner Weg“ funktionieren kann und erst am Anfang steht. „Er ist damit unsterblich“, sagte Trainer Pal Dardai nach dem Spiel. Oder wie Benjamin Weber sagte: „Es geht weiter, wenn auch anders.“